Donnerstag, November 24, 2005

Theaterschaffende, die diesen Text uraufführen wollen, können sich beim Autor Volker Lüdecke darüber informieren. Der Text ist urheberrechtlich geschützt! (stueckgutverlag München) Also bitte nur lesen, nicht kopieren, nicht ohne Genehmigung aufführen! Denkt daran, auch Autoren möchten von ihrer Arbeit leben können! Danke!
 
Tom und Andreas beim Frühstück auf der Dachterrasse. Daniel kommt in den Garten, bleibt vor der Terrasse.
Daniel Hallo!
Tom Ja?
Daniel Ist meine Schwester zu sprechen?
Tom Wer?
Daniel Meine Schwester?
Tom Sophie?
Daniel Ja, Sophie.
Tom Nein. Sie ist mit meinem Onkel zusammen verreist.

Daniel geht zurück in den Garten, kehrt um und geht dicht an Tom heran.
Daniel Wurde dieses Haus verkauft, oder bist du mein Neffe?
Andreas Wir sind hier legalisiert durch seine Tante.
Tom Das ist Andreas. Ich heiße Tom. Wer sind Sie?
Daniel Hätte dir etwas mitbringen sollen aus Afrika. Tut mir leid, ich kann keine Familienähnlichkeit entdecken. Es ist schon seltsam, sie hier nicht, sondern dich zu treffen. Ich bin Daniel!

Andreas nimmt eine Videokamera, fotografiert Daniel.

Andreas Und Action!
Daniel Sophie hatte mir nicht gesagt, dass ihr hier sein würdet.
Tom Mir hatte sie nichts von Ihnen erzählt. Niemand, keiner aus der Familie, hat mir je von Ihnen erzählt. Tut mir leid.
Daniel Freut mich, dich kennen zu lernen, Tom. Daniel und Sophie, das sind zwei gegensätzliche Geschwister. Dass ich mich überhaupt noch wundere über ihr Verhalten! Sie verdrängt eben. Nein, das ist nur so eine Überlegung von mir. Ansonsten ist sie vollkommen korrekt. Ja, man mag sie. Wenn man von ihr nicht verdrängt wird, kann man sie sogar sehr mögen.

Andreas kreist mit der Kamera um Daniel und Tom.

Tom Sie sind in Australien. Bei diesem großen Felsen, wie heißt der? Der liegt da so seltsam groß in der Landschaft herum. Wie durch Zufall hingeworfen, vom Himmel gefallen, oder von einer antiken Gottheit beim himmlischen Manöver aus dem Streitwagen verloren. Sein Name fällt mir nicht ein.
Daniel Ach, sie verschwindet einfach in einem Bild? Sehr elegant, hätte ich ihr nicht zugetraut. Liebe Schwester, ich sage, gestern war ich noch in der Serengeti, fahre in einem Landrover, beobachte mit einem Fernglas Wildtiere, und Schwupps, springe ich aus diesem Bild heraus, hier an den Bodensee.
Aber ich kann es ihr nicht sagen, denn sie will ja nicht hier sein. Australien, das klingt wichtig, unaufschiebbar. Natürlich, wer würde sich bei dieser Reiseperspektive gern aufhalten lassen?
Entschuldigt, ich rege mich auf. Das habt ihr nicht verdient, ihr seid ja nur zufällig hier.
Hinter mir liegt eine Menge Stress. Einchecken, Auschecken, Gepäck weg, Zollpapiere. Wenn ihr wüsstet, wie viel Stress, würdet ihr meine Laune verstehen. So eine Enttäuschung! Begreift ihr das? Vergessen von der eigenen Familie! Haben sie etwa Angst, dass noch mehr aussteigen aus ihrer feinen Gesellschaft? Erst ich, dann du, dann vielleicht er, morgen dann Überlingen, und bald die halbe Bundesrepublik. Die afrikanischen Länder machen die Grenzen dicht vor dem Ansturm deutscher Auswanderer!
Gut, also, ich bin hier, und wenn ihr alle Unfälle zusammennehmt, von denen ihr in der letzten Zeit gehört habt, dann habt ihr vielleicht eine Vorstellung davon, was mir in den letzten zwei Monaten passiert ist. Deshalb hatte sich meine Abreise aus Johannesburg verzögert.
Tom Eine schöne Geschichte. Verzeihung, ich neige überhaupt nicht zum Zuhören, eher zum Gegenteil. Wir entwickeln hier gerade Drehbücher. Sie tauchen hier auf, behaupten, mein Onkel zu sein. Wie finde ich das? Es passt zufällig nicht in mein Buch. Sagen sie mir, wie soll ich das finden?

Andreas geht mit der Kamera so nah wie möglich an Daniels Gesicht heran.


Andreas Achtung, close up, and action!
Daniel Moment mal, habe ich richtig verstanden? Du hast tatsächlich noch nie, ich meine, überhaupt noch nie von mir gehört? Niemand in meiner Familie hat jemals über mich gesprochen? Oder erinnerst du dich daran nicht?
Tom Keine Ahnung, ich interessiere mich überhaupt für ganz andere Sachen. Jedenfalls sind wir uns noch nie begegnet. Ich habe Sie auch noch nie auf einem dieser Familienvideos gesehen. Obwohl regelmäßig grauenvoll peinliche, furchtbare Familienvideos gemacht werden. Die dann angeschaut werden müssen. Nachdem mein Vetter sie an seinem Computer mit den neuesten Effektblenden angefüllt hat. Und mit seiner sympathischen Kommentarstimme und elektronischer Musik nach vertont hat. Das muss man schon ertragen, wenn man zu diesem Clan gehören will. Aber Sie habe ich darauf noch nie gesehen, und Sie wären doch für jeden Hobbyfilmer ein spannendes Motiv.
Ich will Sie nicht widerlegen, ich möchte nur den Kopf frei haben. Die Familie ist ja auch gewaltig groß und weit verzweigt. Da kann schon mal ein Ast vom Stamm übersehen werden, zumal, wenn er etwas dürr ist. Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, aber Sie sehen nicht gut aus.

Daniel lacht seltsam. Andreas fotografiert aus einer Halbtotalen.
Daniel Ich bin ja einiges gewöhnt aus afrikanischen Krankenhäusern, Medikamentenmangel, z.B., aber das ist harmlos gegen ein deutsches Krankenhaus. Der Arzt sagte mir, dass es in diesem Land vierhunderttausend Menschen ohne gültige Krankenversicherungen gibt, und dass er, da er meine Versicherungspapiere nicht versteht, mich zu dieser Gruppe dazu zählt.
Tom Ok, Sie haben es schwer. Vielleicht sind Sie in irgendeinem Spiel, das ich nicht kenne, der Verlierer. Das tut mir Leid für Sie. Aber ich bin in ihrem Spiel nicht der Helfer. Ich spende schon. Wird von meinem Konto abgebucht.
Daniel Zuerst kommt die erste Welt, dann die zweite Welt, dann die dritte Welt und danach die vierte Welt. So ergeht es einem, wenn man nicht mehr gewöhnt ist, unbedingt pünktlich sein zu müssen.
Warum ich es in dem deutschen Krankenhaus so schlimm fand? Ich telefoniere nicht. Ich brauche auch kein Handy. Soll ich von einem Krankenhaus aus die Notrufnummer anwählen? Hallo, hier spricht die vierte Welt. Befreit uns, rettet mich!
Andreas Cut! Das war nicht schlecht. Leider ist die Kassette voll, sonst könnten wir gleich weiter machen. Eins A Probeaufnahmen!
Tom Halt dich mal kurz zurück, ja?
Andreas Aus Südafrika? Wie lange waren sie denn dort? In Afrika, ist das nicht gefährlich?
Daniel Uluru, so heißt dieser Berg in Australien. Ist sie dort?
Tom Nein, bestimmt nicht. Der hieß irgendwie anders.
Daniel Die Aboriginal nennen ihn so. Er ist auch bekannt unter dem Namen Ayers Rock.
Tom Ja, genau, Ayers Rock. Dort müssten sie jetzt sein. Vielleicht kannst du dir ihr Urlaubsvideo ansehen, wenn sie zurück sind.
Daniel Kolibakterien hatten dann in diesem Krankenhaus, wo ich nur ein paar Stunden zubrachte, also, man gestattete mir einen frischen Verband, die Wunde am Knöchel infiziert. Mein Bein schwoll an, so dick wie beim Elefanten. Hast du schon einmal einen Menschen mit einem Elefantenbein gesehen?
Andreas Gigantisch! Ein absolut schräger Charakter, der sich ohne Umschweife physisch manifestiert. Direkt aus dem Leben, meine Hauptfigur!
Daniel In Europa, meine ich, nicht in einem afrikanischen Township.
Tom Wieso hat mir Tante Sophie nichts von Ihnen erzählt? Hat sie ein Problem mit Ihnen?
Andreas Aber uns seitenweise Lebensgrundsätze aufschreiben, deine großherzige Tante! Sie hat einfach nur einen Knall, wie die meisten Leute, die nicht in der Großstadt leben.
Daniel Afrika, wen interessiert das hier, auch wenn wir verwandt sind. Ich miete mir ein Zimmer, was man eben so kriegt für wenig Geld, und warte, dass mein Bein wieder abschwillt.
Tom Ich kann auch mal etwas überhört haben. Wenn es um die Familie geht, schalte ich das Mikro aus. Verstehen Sie? Ja, vielleicht liegt es daran. Die Familie driftet auseinander. Ich halte die Bewegung nicht auf. Ich bewege mich lieber selbst.
Andreas Einfach den Bruder verschweigen, weil er auf einem anderen Kontinent lebt! Das finde ich gut. Das finde ich richtig gut. Zerrüttete Familie, alle tun nach außen herzlich, dahinter Hass, Leere, Verzweiflung! Dann erscheint der ungeliebte Bruder, mischt den Laden kräftig auf. Was haben Sie jetzt vor?
Daniel Es schwoll aber nicht ab. Mir wurde klar, ich brauche Medikamente. Schleppe mich daher in eine Apotheke. In Afrika herrscht ein Mangel an Medikamenten, auch in Südafrika. Obwohl es dort besser ist als z.B. in Kenia.
Alles kein Problem, wenn du Geld hast. Dann tauchen sogar Medikamente auf, die keiner in Afrika erwartet. Aber hier gehe ich in eine Apotheke, biete Geld für ein Medikament, das ich unbedingt brauche, und bekomme es nicht, weil ich dafür eine Erlaubnis, ein Rezept brauche. Und den Rest der Geschichte kennt ihr. Ohne gültige Versicherung keine ärztliche Behandlung, ohne ärztliche Behandlung kein Rezept, ohne Rezept kein Medikament.

Schweigen.

Tom Andreas ist Filmstudent und muss unbedingt einen Film machen, obwohl ihm nichts einfällt. Verstehen Sie? Ich glaube er findet sie gut. Aber sein Etat ist noch nicht genehmigt. Dafür fehlt ihm eine überzeugende Story. Sie können ihm helfen. Und dabei Geld verdienen. Irgendwann.
Daniel Sie denken, es sind nur die Gescheiterten, die hier ohne Krankenversicherung existieren müssen? Irrtum, es sind auch viele Selbstständige, die ihre hohen Beiträge nicht mehr zahlen können: Architekten, Händler, ehemalige Arbeitgeber. Denen geht es schlechter als einem Bandarbeiter bei VW. Kein Problem? Vielleicht sind auch Filmer darunter, die sich bei den TV Redaktionen unbeliebt gemacht haben. Kann man sich vorstellen, wie viele sich da für ein bisschen Arbeit bis zum Kopf im Eimer verbiegen?
So viel Leben passt gar nicht durch eine Linse.
Tom Vielleicht sind das mehr ihre privaten Angelegenheiten. Und Sie stellen da zu der übrigen Welt eine Verbindung her, die tatsächlich so gar nicht existiert. Was sagt denn ihre Frau dazu?
Andreas Lass ihn! Willst du meine Arbeit sabotieren? Ich fasse einen Gedanken, und du zerfetzt ihn. Wenn ich auf alles Rücksicht nehme, brauche ich als Regisseur gar nicht anzufangen.
Daniel Wartet mal, Jungs, streitet ihr euch meinetwegen? Ich habe keine aufregende Enthüllungsgeschichte zu vermarkten. Das Konto ist vollkommen leer.
Andreas Das können Sie nicht beurteilen. Meinen Sie, wir studieren Semester für Semester von „Alles auf Anfang“, über Dramaturgie bis Kabelbruch, damit Sie uns ansagen, was geht? Wissen Sie, aus wie vielen Bewerbern man uns zwei people ausgewählt hat, uns?
Tom Bist du irre?
Andreas Mann, ich stehe unter Druck! Auf Anordnung kreativ sein! Thema, Tage, takes! Oder gar nichts. Keine Kohle, kein Film. Neffe Tom muss auch kreativ werden, sonst wird das nichts mit seiner Karriere beim Frühstücksfernsehen.
Daniel Ihr habt euch das ausgesucht. Oder?
Andreas So sieht das aus, lieber Osterhase. Nichts gefunden im Busch.
Tom Ja, deshalb sind wir hier am Bodensee, obwohl unser gemeinsames Projekt schon lange vorher gestorben war. Deswegen machen wir jetzt getrennt. Konkurrenz unter Filmschaffenden.
Andreas Wir haben inzwischen festgestellt, dass wir nicht zusammen arbeiten können. Was nicht an mir liegt.
Tom Sicher nicht. Ich möchte nur wirklich meinen Abschlussfilm machen.

Daniel lacht sein seltsames Lachen.
Daniel Das ist ja generös von Sophie. Sie hat immer ein Herz für Künstler. Besonders wenn sie weit weg sind.
Wusstet ihr, dass sie vor allem die Surrealisten schätzt? Sie begibt sich gern auf ihre Fährte. Sammelt Kachina-Figuren der Pueblo-Indianerstämme Hopi und Zuni. Hat sie noch Figuren im Haus, oder lagert sie die wertvollen Stücke in einem Banktresor?

Schweigen.

Daniel Mal sehen, welche Kunst der so genannten Primitiven sie aus Australien mitbringt. Falls sie wirklich dort sind.
Tom Wenn etwas passieren sollte, können wir von Australien aus nicht eingreifen, sagte sie am Telefon. Ich habe mich nicht gefragt, was passieren könnte. Mit Spekulationen beschäftige ich mich nicht.
Andreas Und ich darf auch hier sein. Allerhöchste Erlaubnis! Zur Inspiration auf dem Lande.
Tom Er freut sich darüber schon die ganze Zeit. Was haben Sie nun vor?
Daniel Ich? Nichts.
Tom Aber bitte keine weiteren Gäste, sagte Sophie. Was soll ich machen?
Andreas Weil hier kein Platz ist.
Daniel Meine liebe Schwester Sophie verwendet euch als Türsteher.
Tom Also, wenn Sie hier wohnen wollen, betrifft das uns auch ein klein wenig. Wir sind hier, damit wir uns eben nicht auf irgendwelche Dritte einstellen müssen. Aber sie sollten ihr Anliegen mit ihr besprechen.
Daniel Eine Woche ungefähr wollte ich hier bleiben, so war es vorher verabredet. Einige Dinge mit ihr besprechen. Sie hat wahrscheinlich nicht geglaubt, dass ich wirklich komme.
Tom Es tut mir wirklich leid.

Andreas nimmt Tom zur Seite. Sie flüstern.

Andreas Tom, sie muss es nicht erfahren.
Tom Deine Anwesenheit kostet mich Nerven. Ich bin kurz davor, den Aufenthalt hier überhaupt abzubrechen.
Andreas Eine Nacht. Er erzählt interessante Geschichten.
Tom Der tickt nicht richtig. Merkst du das nicht?
Andreas Hast du etwa Angst vor dem? Wir sind zu zweit.
Tom Nein! Er kann meinetwegen der Papst sein. Du lässt dich ja gern ablenken, mir geht es in erster Linie um den Film.

Daniel geht davon. Sie starren ihm nach. Andreas ruft ihm hinterher.

Andreas Warten Sie! Er meint das nicht so!
Tom Ich will Ihnen ja helfen. Vielleicht finde ich im Haus eine Telefonnummer von Australien.
Andreas Ja, vom Reiseveranstalter. So kannst du sie ans Telefon kriegen.

Daniel kehrt langsam zurück Tom eilt ins Haus.
Andreas Möchten Sie einen Kaffee? Ich kenne Toms Familie nicht. Für mich war er jemand anderes, bevor wir hierher kamen.
Daniel Wer?
Andreas Schon gut. In vielen Familien gibt es keinen Kontakt untereinander.
Daniel Ja, was bedeutet das heute noch, meine Familie? Mir bedeutet es sehr viel, weil ich schon sehr lange im Ausland lebe. Was hier selbstverständlich ist, vermisse ich dort.
Andreas Ich bin nur zum Urlaub im Ausland. Man hält Ausschau und amüsiert sich. Dann fliegt man wieder nach Hause.
Daniel Afrika! Dieser Kontinent lässt mich nicht mehr los. Weil dort die meisten wirklich glücklichen Menschen leben. Glück wirkt nämlich ansteckend. Ja, ihr seht im Fernsehen nur die Bilder von Unterernährung und Krieg. Stell dir vor, man würde von Europa nur Bilder von Armut, Krieg und Verbrechen in den Massenmedien verbreiten. Dazu vielleicht noch ein paar Tier- und Naturfilme. Wie lange würde es dauern, bis alle denken, Europa sei ein großer Friedhof, den man nicht zum Vergnügen besucht.
Andreas Das klingt wie ein großes Abenteuer. Und lässt sich bestimmt einbauen. Ein Team kann ich nicht hinschicken, aber wozu gibt es Archive. Innen drehen wir hier, ein paar Bauten, etwas Dekoration. Für Außen verwende ich Archivaufnahmen. Verzeihung, ich denke gern laut.
Daniel Es ist vieles möglich, wenn die Menschen etwas verändern wollen.

Schweigen.
Daniel Jemanden aus der Gemeinschaft auszuschließen, gilt in Afrika als Vergeltung für ein schweres Verbrechen. Ohne soziale Zugehörigkeit zu einem Stamm, einem Clan oder einer Religion hat man dort ein viel größeres Problem als hier.
Andreas Mag sein. Aber zuviel Hintergrund kann ich nicht gebrauchen. Film ist immer nur die Oberfläche. Entweder sehe ich, dass ein Charakter interessant ist, oder er ist eben langweilig. Dann fliegt er raus.
Daniel Ich frage mich manchmal, welches Verbrechen habe ich eigentlich begangen?
Andreas Ich bin ganz Ohr.
Daniel Mord, Vergewaltigung, einen Raubüberfall? Nein, das ist gar nicht notwendig. Wer zu lange im Ausland arbeitet, verliert in Europa den Anschluss. Ist das fair?
Andreas Krass! Ja, ja, das ist wirklich sehr krass.
Daniel Eine andere Lebensauffassung, ein anderer Berufsweg, und man schließt dich aus.
Andreas Interessant! Vielleicht kann ich das irgendwie in die Story-Line einfügen. Das ist ein guter Satz für eine Nebenfigur. Aber jetzt geht es erstmal um alles.
Daniel Ja, sicher, seltsam.

Schweigen.

Daniel Es ist eigentlich nichts vorgefallen. Nichts, außer ein paar Bemerkungen. Einer geht, und hört nicht mehr auf zu gehen. Die Lösung. Man wird ja einmal irgendwo ankommen. Ja, einer bleibt, einer geht.
Andreas Ja, und? Mann, weiter so! Das klingt existenzialistisch. Ich sehe Sie jetzt in schwarz/weiß. Vielleicht drehe ich ja auch in schwarz/weiß.
Daniel Es hat eine Abstoßung stattgefunden, wie zwischen zwei gleich gepolten Magneten. Nichts Aufregendes darüber zu erzählen. Ein Naturphänomen.
Andreas Sie bleiben auf jeden Fall hier. Ich regele das.
Daniel Wer nicht informiert ist, kann nicht reagieren. In Afrika ist man geringer informiert. Wenn überhaupt, weniger über Details. Menschlich reagiert man dort aber als Mensch. Einfach hilfsbereit.
Andreas Tom stellt bestimmt wegen der Telefonnummer das ganze Haus auf den Kopf. Er ist manchmal etwas schroff, aber ansonsten in Ordnung. Mir macht es Spaß, ihm auf die Nerven zu gehen.
Daniel Glaubst du, hier in einer der besten aller Gesellschaften zu leben? Die meisten glauben das doch, oder?
Andreas Rentner nach Afrika! Mehr Entwicklungshilfe! Keine Ahnung.
Daniel Wird bestimmt witzig, dein Film.
Andreas Ja?

Die Nachbarin schleppt einen Pappkarton durch den Garten zur Terrasse.

Edith Bin ich froh, dass endlich wieder jemand da ist. Grüß Gott! Weil ich doch die Kartons auf den Dachboden schaffen muss, wie ich es mit der Sophie verabredet hatte. Bei uns waren durch den Regen die Keller voll gelaufen. Was wir retten konnten, war eingeweicht. Zum Trocknen haben wir es im ganzen Haus verteilt. Ich bin die Nachbarin, da drüben, das ist unser Haus. Wir haben einen Brunnen, von dem speist hier der Garten seine Bewässerung. Die Wasserpreise kann ja niemand mehr bezahlen.
Am besten bohrt sich jeder seinen eigenen Brunnen. Aber wir helfen gern, unserer ist ja nun mal der älteste. Der älteste Brunnen hier in der gesamten Gegend.
Warum sollten Nachbarn ihn nicht mit benutzen? Abgezahlt ist er ja schon lange. Man hilft sich unter Nachbarn, für mich ist das eine Selbstverständlichkeit. Er müsste nur gewartet werden. Die Pumpe saugt Sand, Steine und Erdreich, was da unten alles herum liegt, und verstopft das Saugrohr.
Wissen Sie, wie viel es kostet, einen neuen Brunnen zu bohren?
Andreas Achtung, eine Durchsage: alles an den da drinnen, der kommt gleich da raus.
Edith Sie, ich habe aber nicht den ganzen Tag lang Zeit, hier herum zu stehen.
Andreas So ist das nun mal beim Film. Warten, warten, und wieder warten, bis endlich ein Regisseur sagt: Action!
Edith Sie, ich verlange nichts von ihnen. Nur die Kartons müssen auf den Dachboden bei der Sophie, das hat sie mir persönlich versprochen. Sobald sie trocken sind, hat sie gesagt. Seien Sie bitte so gut, fassen Sie mal mit an!
Daniel Ich?
Andreas Nein, mich hat sie gemeint. Oder haben Sie etwas an den Augen?
Daniel An den Ohren, oder?
Edith Ja, Sie! Da ist doch nichts dabei?

Andreas fasst den Karton an, hebt ihn aber nicht hoch.

Edith Und? Heben!
Andreas Komisch!
Edith Haben Sie etwa einen Hexenschuss?
Andreas Nein. Der ist ja irrsinnig schwer. Sie, wie haben Sie das geschafft? Allein den Karton bis hierher geschleift? Sie haben es aber in den Armen!
Edith Ja, treibt nur euren Schabernack mit alten Leuten! Die Sophie hätte gleich jemanden kommen lassen, der mit anfasst.
Auf einmal sind die weg. Man wundert sich ja. Ein Wochenendausflug möglicherweise, kann ja mal vorkommen. Die brauchen aber gleich die Fernreise, wie ich von der Nachbarin erfahren habe, darunter tun sie es nicht.
Daniel Wir warten selbst.
Andreas Hals über Kopf abgereist? Wie auf der Flucht?
Edith Sie, das wollte ich Sie auch eben fragen. Sind sie auf der Flucht? Was haben sie denn ausgefressen? Nein, man spricht einen Verdacht nicht offen aus. Sie sind ja so liebenswerte Leute.
Daniel Sie sind sogar ganz sicher auf der Flucht. Vor ihrem eigenen Leben, vor sich selbst.
Edith Im Hausflur, im Wohnzimmer, in der Küche, im Badezimmer und sogar im Schlafzimmer stapeln sich bei uns Kartons.
Andreas Sind sie noch feucht? Oder schon getrocknet?
Edith Nur im Zimmer meiner Tochter habe ich auf Stauraum verzichtet. Nicht im Zimmer meiner Tochter!
Andreas Sie haben eine Tochter.

Edith will ins Haus gehen.

Andreas Der sucht da drinnen nach einer Nummer. Sie können jetzt nicht hinein.
Edith Ein Leben zwischen Kartons ist nicht schön. Wenn die Insekten kommen, dann Halleluja!
Daniel Er sucht verdammt lange! Hat er uns vergessen?
Edith Meinen Sie, hier sei weniger Regen runter gekommen, als in Sachsen damals? Der liebe Gott denkt an alle gleich, auch wenn er es über die Jahre verschieden verteilt. Aber Unterstützung gezahlt wird nur dort, wo einer zufällig die Kamera drauf hält! Die Menschen sind nicht so gerecht.
Andreas Wie lange halten sie diese Kartons schon bei sich zu Hause? Gibt es da einen Befall, der sich übertragen könnte?
Edith Nur ins Mauerwerk. Sie können sich das ansehen, wo es schimmelt. Da haben wir aber gleich Maßnahmen ergriffen. Das komplette Haus herunter gekühlt. Was das an Strom kostet! Bis auf das Zimmer meiner Tochter.
Andreas Aber in der Sonne können Sie ihre Jacke vielleicht ausziehen.
Edith Sie, das ist meine Privatsache!

Edith will den Karton wieder anheben, verzieht das Gesicht und hält sich den Rücken.

Edith Den Karton trage ich nicht zurück. Die Sophie hat es mir zugesagt. Darin sind Henkeltassen, die schimmeln nicht.
Daniel Es handelt sich also um Henkeltassen, die auf den Dachboden sollen. Wozu?
Edith Geschenke. Von Ihnen hatte mir die Sophie nicht gesprochen. Sie, ich glaube sie sind ein Privatdetektiv!
Andreas Wir sind hier zum Arbeiten, zur Inspiration. Und tatsächlich verkörpern Sie ein mir vollkommen unbekanntes Genre.
Edith Ich wünsche ihnen das gleiche! Auge um Auge, Zahn um Zahn!
Daniel Aus Übersee. Afrika. Ich besuche meine Vergangenheit.
Edith Lassen Sie mir bloß die Jungen in Ruhe, ja? Wir pflegen hier eine sehr wachsame Nachbarschaft.
Daniel Vielleicht werde ich Ihr neuer Nachbar. Dann gebe ich eine Haschparty. Ich lade Sie dazu ein.
Edith Ja, doch, jetzt erinnere ich mich. Nein, diese Ähnlichkeit! Sie haben sich aber raus gemacht. Ja, doch, der kleine Bub, was einem das Gedächtnis manchmal für Streiche spielt. Früher war ja öfter die Polizei hier. Hasch, das war das Stichwort. Mein Mann ist ja bei der Polizei in Friedrichshafen. Er musste auch mit zum Einsatz, als hier die russischen Kinder vom Himmel fielen. Ja, wenn der Fluglotse nur seinen Mund gehalten hätte! Nichts wäre passiert. Aber weil er sich unbedingt einmischen musste, sind die Flugzeuge oben im Himmel zusammen gerasselt. Es stand ja so in der Zeitung. Bis heute haben sie nicht alle gefunden.
Andreas Ich bin hier gar nicht verwandt. Verzeihung, Sie verwechseln mich.
Daniel Sie meint mich. Und es freut mich, dass wenigstens Sie sich an mich erinnern.
Edith Jetzt muss ich gerade überlegen.
Andreas Wo Tom nur bleibt. Der arbeitet wahrscheinlich wieder, weil ihm etwas eingefallen ist. Mein Gott!

Andreas verschwindet im Haus.

Daniel Und Sie wollen sich an mich erinnern?
Edith Gott, wie die Zeit vergeht. Nein, an Sie erinnere ich mich beim besten Willen nicht.
Daniel Tragen Sie mal hübsch Ihre Alibikiste wieder nach Hause! Keine Sorge, die meisten Menschen sterben immer noch im Bett. Ich werde mich mal in der Gegend hier über Sie erkundigen. Wo Sie Ihre Nase überall reinstecken. Eine neugierige, faschistoide Heckenschützenvereinsgesellschaft, dagegen sind wir früher auf die Straße gegangen. Hat wohl nichts genützt.

Daniel geht eilig.

Edith Was will denn der?

Sie wartet unschlüssig neben ihrem Karton, aus dem Haus Stimmen von einem Wortwechsel.

Edith Jetzt habe ich vergessen, der Katze zu fressen zu geben.

Sie möchte zurück, will ihren Karton jedoch weder allein zurück lassen noch mitnehmen.

Edith Der wird schwul sein, der eine von denen. Drogensüchtig sind sie sowieso alle. Aber die erkennt man nicht immer. Aber einen Schwulen erkenne ich auf hundert Meter Entfernung. Wie die das machen! Vorstellen mag ich es mir nicht. So eine Sauerei!

Tom und Andreas kommen aus dem Haus.

Tom Ist er etwa weg?
Edith Weg. Sind Sie der Neffe von der Sophie?
Tom Schön, jetzt habe ich den Reiseveranstalter erreicht, damit er meine Tante informiert. Konntest Du nicht bei ihm bleiben?
Edith Ich habe die Erlaubnis von Sophie, Kartons auf ihrem Dachboden einzulagern.
Tom Ich möchte heute gar nichts mehr entscheiden. Und auch Sophie im Urlaub nicht belästigen. Nachher bricht sie ihren Urlaub ab, und dann war alles nicht so gemeint.
Edith Falls Sie Probleme mit der Gartenbewässerung bekommen, besprechen Sie das mit meinem Mann. Er schreibt jeden Kubikmeter auf, der aus unserem Brunnen entnommen wird. Seit Jahren! Ein Vermögen, wenn Ihre Verwandten das von den Wasserwerken beziehen müssen. Mein Mann sagt immer, genaue Rechnung, gute Freundschaft.
Tom Entschuldigen Sie meine gereizte Stimmung. Weil man einfach nicht zum Arbeiten kommt. Jede Unterbrechung bringt mich um meine Konzentration.
Andreas Ich dagegen liebe von Unterbrechungen.
Tom Halt jetzt einfach mal deine Fresse!
Edith Ich habe ja den Dachboden gesehen, als sie den Dachgarten haben anlegen lassen, obwohl sie doch so einen großen Garten haben. Da gibt es Platz für alle Kartons, bis unsere Keller ausgetrocknet sind.
Tom Und jetzt haben Sie den einen mitgebracht. Bleibt es dabei?
Edith Ich habe noch einen Haushalt zu versorgen. Ein schönes Gefühl, wenn man endlich wieder Platz um sich herum hat.
Wie im Grab fühlt man sich. In der eigenen Wohnung.
Ein Nachbar, der mit dem Pastor verwandt ist, hat erzählt, dass die Toten auf dem Kirchhof nicht mehr verwesen.
Andreas So?
Edith Ja, sie haben ein Verwesungsproblem. Der Bestatter hat es mir bestätigt. Sie öffnen die Gräber nach zwanzig Jahren, um sie auszumisten. Normalerweise finden sie noch ein paar Knochenreste, höchstens. Aber hier finden sie jetzt die Leichen wie frisch bestattet.
Andreas Vampire. Ungebetener Besuch!
Edith Nein, zu fettreiche Kost. Unsere Wohlstandsgesellschaft stellt sich zu fettes Essen auf den Tisch! Daher verwesen wir nicht mehr. Mit dem Fast Food.
Das erhöht den Fettgehalt des Körpers und fördert so die Entstehung von Wachsleichen. Die konservieren sich selbst. So hat es mir der Bestatter erklärt.
Tom Endlich hast du einen Plot. Worauf wartest du noch!
Andreas Vampirfilme sind mausetot. Ich werde sie wieder beleben.
Edith Wachsleichen, ist das eine Zukunft? Meinen Mann habe ich auf Diät gesetzt.

Schweigen.

Tom Wie viele Kartons insgesamt?

Edith überlegt, rechnet an zwei Händen.

Tom Das kriegen Sie bitte bis morgen raus. Dann sehen wir weiter. Zeigen Sie mir jetzt, wo Sophie den Dachboden für Sie reserviert hat!
Edith Sie sind ein guter Mensch. Gott segne Sie! Und falls irgendwelche ungebetenen Gäste bei ihnen klingeln, die sie bei ihrer Arbeit stören, sagen Sie einfach Bescheid! Mein Mann erledigt das.

Tom trägt den Karton ins Haus. Edith folgt ihm. Andreas spricht in sein Diktiergerät.

Andreas Wenn ich Tom zu einer Hauptfigur in meinem Drehbuch mache, kann ich sagen, eine meiner Hauptfiguren sabotiert meine Arbeit. Es kotzt mich an, dass er ständig Rücksicht nimmt auf den Geist der Tante. Ich habe Lust, meine Theorien zu diskutieren. Die Nordsee ist vernetzt. Die Ostsee auch. Bleibt nur der Ozean zum Schwimmen. Ein bisschen weit da hin. Kein Boot in Sicht.

Copyright 2005, V.E.L.

Sonntag, November 20, 2005

Wie geht es unserer Castor Jenny? Oder Jenny Castor?

Kareen findet, dass Jenny mit ihren radioaktiven Manuskripten eigentlich eine Polizeieskorte verdient hätte, damit sie mit dem ihr gemäßen TamTam ins Theater einzieht, um alle Dramaturgen, die bis drei nicht auf den Bäumen sind, nachhaltig radioaktiv zu beeinflussen.
Auf der Bühne der Zukunft geht also wie gehabt vor der Vorstellung das Licht aus, aber im Unterschied zu heute nicht wieder an, wenn die Vorstellung beginnt. Nein, man wird die Beleuchtungstechnik einsparen und ganz von allein leuchten, mit Hilfe einer Power Kontamination, die für alle Schauspieler zur beruflichen Pflicht erhoben wird.
Die gesellschaftliche Verantwortung der Bühnen wird proportional zu den schwindenden Finanzmitteln steigen, denn Subventionen werden dann nicht mehr nötig sein, weil die Theater den Städten und Gemeinden den Strom liefern und der Strompreis weiter steigt. Also, herzlichen Dank an unsere Jenny Castor,
Eure Kareen (direkt aus dem Katastrophengebiet Bodensee )

Samstag, November 19, 2005

Hallo,
some storys for movies! Take a look!
Keine Probleme!
von Jenny per SMS
Hallo Leute, bin auf dem Weg nach Berlin. Nicht erschrecken, habe die absolute Theatersensation im Gepäck. Bin ein bisschen müde, auch sehe ich schlecht auf der Landstraße, es ist nachts und so viele Lichter. Jetzt gehe ich einen Kaffee trinken. Bis Heute oder Morgen, eure Jenny

Versteht ihr das?

Dienstag, November 15, 2005

Kareen rief mich an

Im Moment sind die Leute hier total aufgeregt, weil jemand das Trinkwasser von Millionen von Menschen durch einen Giftanschlag im Bodensee vergiften wollte. aus dem Bodensee wird Trinkwasser entnommen, und genau dort fand die Polizei Behälter mit Gift. Wenn es funktioniert hätte, wäre das eine gigantische menschliche Katastrophe gewesen. Ich bin schon gespannt, was unser crazy Lokalautor dazu schreiben wird. Der trifft sich immer noch mit den Filmleuten, die ausgerechnet hier einen Film drehen wollen. Auf die Dreharbeiten bin ich gespannt.
Aber wie es eben so ist: kaum recherchiert man über das Thema Katastrophen, da passieren solche Dinge.
Grüße von Kareen

Mittwoch, November 09, 2005

Jenny an Europas Grenze

Jenny klang sehr verzweifelt am Telefon. Zuerst hatte alles so wundervoll geklappt. Mit der Familie der Autorin war sie einen posthumen Autorinnenvertrag eingegangen, der beide Seiten zufrieden stellte. Dann hatte sie all die radioaktiv kontaminierten Manuskriptseiten in extra dafür hergestellte Bleikisten verpackt und auf einen LKW geladen. Die Ukrainer waren sehr herzlich und zum Abschied gab es eine rauschende Feier mit traditioneller Musik, aber auch mit einer modernen ukrainischen Rockband. Der Vodka floss in Strömen, und fast hätte ein zufällig anwesender Schauspieler eine Bleikiste geöffnet und aus den Manuskripten vorgelesen, aber Jenny konnte ihn gerade noch davon abhalten.
Am nächsten Morgen fand sie sich erstaunlich klar nach so viel Vodka, und Vorgestern am Morgen war sie schleißlich aufgebrochen. Landstraße, immer Richtung Westen. Ihr bisschen Gepäck und die Bleikisten hinten auf dem LKW. Alles kein Problem, keine Kontrollen, kaum Verkehrsschilder, für westliche Verhältnisse leere Straße.
Nach 12 Stunden Fahrt kam sie erschöpft an der europäischen Ostgrenze an. Dort fließt ein kleiner Fluss, Bug genannt, der später in den Narew mündet. Die Grenzabfertigung hatte eine LKW Kolonne zur Folge, so dass sie beschloss, wie sie mir fast weinend berichtete, am Ufer des Grenzflusses etwas auszuruhen. Sie parkte den Wagen, rastete, aß Paprika, Salami und Gurke, und schlief ein.
Durch ein grelles Licht wurde sie geweckt und sie starrte in einen Scheinwerfer. Es war schon dunkel geworden, und sie sah, dass sich Männer an ihrem LKW zu schaffen machten. Sie sprang auf, rannte zu dem LKW und schrie die Typen an. Das hatten die nicht erwartet und flüchteten. Ein anderer LKW Fahrer kam hinzu und half ihr. sie kamen ins Gespräch, und er fragte, was sie geladen hätte. Manuskripte, radioaktiv, antwortete sie, ich werde sie in Deutschland dekontaminieren. Da brach der LKW Fahrer in schallendes Gelächter aus. Was? Wie bitte? Damit kommst du nie über diese Grenze. Das ist die modernste Grenze der Welt, die EU ist hier wie ein Hochsicherheitsgefängnis abgeschottet.
Jenny war entsetzt. Sie rief mich an um Hilfe.
Der LKW Fahrer fragte einen Grenzbeamten, den er privat kannte, ob man mit radioaktiven Stoffen in die europäische Festung hinein käme.
Niemals, soll der geantwortet haben. Eher gehe ein Reicher durch ein Nadelöhr, und so weiter. Aber, es gäbe immer Möglichkeiten, denn der Mensch denkt, aber Gott lenkt.
Jenny will nicht bekehrt werden, aber über die Grenze mit ihren Manuskripten.

Sie ruft wieder an, ich werde berichten.
Euer V.E.L

Donnerstag, Oktober 27, 2005

Hallo liebe Überlingen Fans!

Wollte euch das Telefonat mit Kareen nicht vorenthalten. Ich hatte sie wegen des Textes (siehe vorheriger Post) angerufen, den sie mir leider ohne Kommentar per Post zugesandt hatte. Sie hat mir sofort erzählt, dass sie ihn wieder beim Einkaufen im Supermarkt erhalten hat. Und zwar hatte sie ihren Einkaufswagen für einen Moment unbeobachtet im Markt stehen gelassen, um eine einfache Milchtüte zu finden, da lag er dann zwischen den Lebensmitteln. Also, sie sagte auch, dieser unbekannte Autor aus Überlingen gilt dort als ziemlich verschroben und witzig. Aber in Überlingen sollen viele Originale unterwegs sein, findet jedenfalls Kareen.
Wir haben auch über das gestrige Urteil gegen den Hinterbliebenen der Flugzeugkatastrophe gesprochen, der einen Fluglotsen aus der Schweiz bekanntlich erstochen hat. Acht Jahre Zuchthaus, kein mildes Urteil, war unser beider Meinung. Andererseits muss man auch bedenken, dass der Fluglotse von Skyguide vielleicht einmal in seinem Leben einen gravierenden Fehler gemacht hatte, oder sogar nur die Struktur der Flugüberwachung nicht richtig ineinander griff. Denn Selbstjustiz geht ja auch nicht. Nur im Theater sei sie erlaubt!
Schöne Grüße an alle, V.E.L

Mittwoch, Oktober 26, 2005

Unknown poet from Ueberlingen,Teil 2


Tom und Andreas hinter einer Jalousie.

Andreas Zum x-ten Mal dieselbe CD.
Tom Kannst du ohne?
Andreas Hätten wir gleich die Party organisiert, gäbe es wenigstens Geschichten.
Tom Das Wetter wird morgen besser.
Andreas Und, wie kommst du voran?
Tom Ja. Wir können im Regen an den See. Und du?

Regengeräusch wird lauter.

Andreas Ich komme mir merkwürdig vor bei dieser Aufgabe.
Tom Beim Baden wird man nass. Augen zu und durch?
Andreas Der Anblick eines verregneten Sees. Eine hübsche Einladung zur nächsten Depression. Der bürgerliche Kunstbegriff. Was nützen einem die besten Seminare, wenn sie am Schluss von einem ganz konventionelle Geschichten verlangen?
Tom Dein Abschlussfilm. Mach, was du willst. Eine Gelegenheit, sich der Branche zu empfehlen.
Andreas Beim Baden wird man nass. Das reicht mir nicht. Ich will, dass die einen Schock kriegen, in den Kinosaal kotzen. So habe ich eine Chance, nur so!
Tom Ich möchte, dass sie lachen.
Andreas Die Medienindustrie selbst ist viel spannender als die Themen, die sie zeigen. Eine Megamaschine, von niemandem kontrolliert, die sich auf der einen Seite selbst auffrisst, um sich auf der anderen Seite neu zu gebären. Und in diesen gefräßigen Transformationsprozess werden wir als Frischfleisch geworfen, von Uniprofessoren voll gestopft mit Idealen wie ethisch sinnvolle Unterhaltung, demokratische Medien, anspruchsvolle Kamera, und so weiter und so fort, du kennst die Litanei. Was wir alles sollen, damit denen einer abgeht! Im Berufsalltag später dürfen wir davon dann tatsächlich keine zwei Prozent mehr realisieren, stimmt´s?
In meinem Drehbuch soll ein fieser Programmchef einer Sendeanstalt vorkommen, der sich privat nur noch Pornos reinzieht, aber dann im Sender darüber entscheidet, ob ein anspruchsvoller, interessanter, spannender, aufklärender Film gesendet wird oder nicht!
Die Leute sollen richtig geil auf diesen tollen Film werden, und dann kommt ihnen dieser fiese Arsch von Programmchef dazwischen. Er ersetzt ihn einfach durch diese billige Unterhaltung, wie sie täglich aus der Glotze raus schwappt. Sie werden diesen tollen Film also niemals zu sehen kriegen.
Schön sauer sollen sie werden, auf all die miesen Programmchefs dieser Republik!
Wenn ich selbst kotze, und das als Film realisiere, kotzen die Zuschauer auch!
Tom Das Budget ist frustrierend. Wenn ich daran denke, höre ich sofort auf. Aber mit einem hervorragenden Buch finden sich eventuell Koproduzenten. Hast du daran schon mal gedacht?
Andreas Klar! Ich schlafe abends mit einem virtuellen Koproduzenten ein und wache morgens mit einem anderen Koproduzenten auf. Ich schlafe deswegen schlecht.
Tom Nein, nein, nein! Dein Lieblingswort. Sind wir hier zum gemeinsamen Arbeiten, ja oder nein?
Andreas Nein. Dein Denken funktioniert wie das verfluchte System. Wer nichts hat, darf keine Ansprüche stellen. Das kann ich für mich als Voraussetzung für dieses Business nicht akzeptieren. Ich möchte nicht abgebaut, sondern aufgebaut werden. Diesen Anspruch habe ich an Förderer, an Koproduzenten, an alle. Ich nehme mir einfach frei weg vom Tablett, auf dieser großen Medien Fuck Parade. Und du?

Regengeräusch ebbt ab.

Tom Ansprüche, noch mal Ansprüche, wie ein Fünf-Sterne-Tourist. Im Haus meiner Tante. Wir haben hier jede Menge kostenlosen Freiraum. Kritik tut ja manchmal verdammt weh, aber sie bringt einen weiter. Ich habe noch keinen einzigen Film von dir gesehen, der mich überzeugt hat, ja? Handwerklich in Ordnung, ein paar ganz nette Effekte ja, aber sonst? Kein überzeugender Plot, keine originellen Ideen, nichts!
Andreas Andere Kulisse, anderer Mensch. Ich frage mich, wie du im Umfeld der Aura deiner Tante kreativ sein kannst. Das baue ich in mein Buch ein, darauf kannst du wetten! Ich stopfe sie als mumifizierte Leiche in die Hausbar. Schön in Cognac gewälzt.
Tom Passen deine Ansprüche überhaupt in deine mickrige Story? Das wird schwer für dich, du als Regisseur. Ich gebe nur die Meinung anderer über dich wieder.
Andreas Wie langweilig, gähn! Warum findet man in künstlerischen Studiengängen vorwiegend Töchter und Söhne höherer Eltern? Das spiegelt das gesamtkulturelle Bild unserer Gesellschaft wieder. Was denkt man sich dabei?

Regengeräusch wird lauter.

Tom Ich sehe mich morgen im Dorfladen eine CD aus der Sparte TV-Werbung, die schönsten Musikmomente des Lebens, kaufen. Wenn das dein Geschmack ist, muss ich hier mit Kopfhörern arbeiten.
Andreas Unterhaltung macht mich immer gemütskrank. Willst du das riskieren?
Tom Hilf einfach mal irgendwem irgendwas. Mir zum Beispiel, hier und jetzt. Dann kommst du selbst besser drauf. Man hatte mich ja vorgewarnt. Manche nennen dich nur noch Arte. Der den Kanal voll hat mit hohen Ansprüchen, aber es kommt nur immer dasselbe heraus.

Andreas greift ein Buch aus einem Regal, schlägt es auf.

Andreas Oh, ein Folterbuch von deinem Onkel.
Tom Was fällt dir ein?
Andreas Amnesty International. Jahresberichte. Ist er Mitglied bei dem Verein?
Tom Pass auf deine Zigarette auf! Eigentlich dürfen wir hier nicht rauchen. Ja, ich kann es verstehen, weil ich Nichtraucher bin. Wenn es Brandflecken gibt, habe ich den Ärger.
Andreas Hier, Brandflecken auf der Haut von Folteropfern. Dein Onkel zieht sich Sachen rein. Krass! Ich brauche noch eine geniale Mordszene, das Buch ist eine Offenbarung. Das borge ich mir als Gute-Nacht-Lektüre.
Tom Mein Onkel ist sozial engagiert. Gebildet, ein kluger Kopf. Gesellschaftlich sehr anerkannt.
Andreas Mann, ist das krass, wenn du das zeigst, kotzen die Zuschauer reihenweise in den Kinosaal. Das Schweigen der Lämmer, nur zehnfach brutal.
Tom Welcher Darsteller macht das mit? In meinen Augen ist das pathologisch, unerträglich auf der Leinwand. Mein Onkel engagiert sich nicht nur für Amnesty. Hier sind Bücher über Greenpeace.
Andreas Erkennt man deutlich am Bücherschrank. Man bekommt es leider niemals wirklich authentisch so fotografiert, dass die Nervenschwachen aus dem Kino rennen.
Und wir machen Filme fast am Ende der Ära der Überbietungsstrategien, wo es darum geht, das Unerträgliche um nur noch wenige Punkte auf der Skala zu steigern. Mit modernerer Technik kann man noch zulegen, aber inhaltlich? Als echt neu wird da sicher nichts mehr erscheinen. Die Zeit der Leinwandskandale ist vorbei. Im Fernsehen ist in geschwätziger Weise dagegen alles möglich. Talk, Talk, Talk!
Tom Du hast hier eine umfangreiche Bibliothek zur Verfügung. Aber ich möchte keine Aschereste zwischen den Seiten finden.
Andreas Glaube nicht, dass er das alles gelesen hat. Wie alt müsste jemand werden, bis er eine Bibliothek durch hätte?

Regengeräusch, wie starker Regenschlag gegen Fensterscheiben.

Tom Ich kenne meinen Onkel eigentlich nicht. Bestimmt liest er wirklich viel. Wird nicht bloß Dekoration sein.
Andreas Ein Sammler von schönen Bücherrücken ist er auf jeden Fall. Sehr attraktiv! Vielleicht finde ich hier ein Motiv für meinen Mord. Mein Detektiv, den ich als Figur noch nicht festgelegt habe, zieht aus der Bibliothek eines Verdächtigen Rückschlüsse auf dessen Charakter. Dabei übersieht er leider, dass der Verdächtige in Wirklichkeit kein einziges Buch aus seiner eigenen Bibliothek gelesen hat, weil er generell nicht liest. Mein Verdächtiger hasst lesen.
Er bekommt die Inhalte neuer Bücher über das Internet als kleine Zusammenfassungen gesendet, so dass er sich trotzdem in der Lage sieht, gesellschaftlich mitzureden. Es gelingt ihm sogar, sich als eingefleischten Bücherwurm darzustellen.
Seine Bibliothek aber hat er sich von einer jungen Innenarchitektin zusammenstellen lassen. Der Zuschauer bekommt diese Information über den Verdächtigen, da baue ich eine nette Affäre mit der Innenarchitektin mit ein, aber der Detektiv liegt dennoch richtig, denn auch eine Dekoration sagt genügend über den Charakter eines Menschen aus. Er ist der Mörder! Wie findest du das?
Tom Genial.

Regengeräusch in Verbindung mit Wind.

Andreas Mal sehen, was ich noch herausfinde. Nur zum Zeitvertreib, solange das Wetter schlecht ist.
Tom Wenn es dir Spaß macht. Vielleicht gehe ich bei diesem schönen Wetter doch an den See.
Andreas Siehst du die Druckstellen im Teppich?
Tom Kaum.
Andreas Haben deine Verwandten etwa einen gebrauchten Teppich gekauft? Das passt nicht zu ihnen.
Tom Keine Ahnung, vielleicht sind sie mal umgezogen, wie auch immer. Meinen Geschmack trifft der sowieso nicht. Ein ziemlich unedles Stück.
Andreas Bei mir würde er auch nicht im Wohnzimmer liegen. Also, die Frage, ob sie ein ästhetisches Empfinden haben, würde ich mit nein beantworten. Aber darum geht es mir nicht.
Tom Dann bin ich ja beruhigt. Wie sollte ich mir sonst dein Interesse für meine Verwandtschaft erklären?
Andreas Du brauchst sie nicht zu verteidigen. Stell dir vor, mein Detektiv betritt die Wohnung des Verdächtigen, wirft ein paar Blicke auf dessen Einrichtung und tritt dann auf diesen Teppich.
Tom Und?
Andreas Die Kamera folgt in einer Makroeinstellung den orientalischen Ornamenten. Ich denke natürlich an Kino, man wähnt sich augenblicklich in einer Moschee, etwas irritiert durch die Teppichhaare, klarer Verfremdungseffekt, dann erreicht die Kamera die Abdrücke im Teppich. Gegenschuss auf die Augen des Detektivs, dann ein Schwenk auf den Verdächtigen, der dem Blick meines Detektivs folgt.
Tom Wenn du das erfolgreich auflöst, bist du wirklich gut.
Andreas Klar, ganz einfach. Der Verdächtige wird blass, die Schlinge um seinen Hals zieht sich langsam zu. Er weiß jetzt, dass der andere weiß, wer der Täter ist, nur die Beweise fehlen.
Tom Und die Handlung. Die fehlt wirklich noch. Bist du wirklich überzeugt von dem Motiv?
Andreas Eine Sequenz, eine von vielen. Ist das gut?
Tom Ja, ich weiß nicht. Irgendetwas fehlt mir zusätzlich noch dabei. Vielleicht stört mich auch nur, dass du alles auf meine Verwandtschaft projizierst.
Andreas Du redest nicht über deine Arbeit. Kein Wort.

Regengeräusche verstummen. Andreas nimmt eine CD aus dem Abspielgerät.

Tom Bitte keine weitere Geräusche CD. Wozu brauchst du so viel Regen in deinem Film? Regen laut, Regen leise, Nieseln, Platzregen, Orkanregen, gleichmäßiger Regen, Regenmusik und so weiter und so fort.
Andreas Der ist für die Atmosphäre unendlich wichtig. Ich möchte eine intensive Herbststimmung: Regen, welke fallende Blätter, Nässe, Depression, wirtschaftlicher Niedergang. Der Ton wird immer wichtiger, der wertet die Bilder fulminant auf. Da sind die Grenzen lange noch nicht ausgereizt.
Tom Arte, eben. Ist das nicht ein ehrenvoller Nickname?
Andreas Lass mich in Ruhe damit!
Tom Und ich dachte bei dem Regen, du planst einen Stummfilm, Arti?
Andreas Hatte ich überlegt. Einen Film für Taubstumme. Aber so weit wie du komme ich da bestimmt nicht. Da bin ich nicht konkurrenzfähig.

Tom geht hinaus. Andreas nimmt sein Diktiergerät.

Andreas Tom mauert sich ein. Bis er verschwunden ist. Sein Problem, Regisseur wird er sowieso nicht. Der klassische Fall von fehl besetzter Studienplatz.

Andreas blättert in einer Zeitschrift. Schaltet sein Diktiergerät ein.

Andreas Hauptfigur, Doppelpunkt. Wenn ich dieses Fernsehprogramm sehe, und die Anzahl der Morde pro Woche zähle, und wie die gemacht sind, kann ich nur sagen: lächerlich! Das sagt alles über das deutsche Fernsehen aus. Doppelpunkt: Lächerlich!

Andreas schaltet das Diktiergerät aus, blättert in der Zeitschrift, schläft ein.